Die Gegenwart macht sich breit. Wer keine Echtzeit bieten kann, läuft ausser Konkurrenz. Auch wenn Begriffe wie «Timeline» eine lineare Zeitbezogenheit nahelegen, geht es (fast) nur um deren Ende im Jetzt - und um die Verlängerung in die allernächste Zukunft. Am besten ist positioniert, wer der Gegenwart genau diese Nasenlänge voraus ist.
Ein kleines, buntes Bilderbüchlein zeigt, was alles in welcher Geschwindigkeit geschehen muss, damit die Nachricht vom Vulkanausbruch am anderen Ende der Welt bis zu uns nach Hause kommt. Da wird der Bericht eines Augenzeugen an einen Journalisten durchtelefoniert, der bringt das ins Lokalradio, das reicht es an die Nachrichtenagentur weiter, die die Meldung prüft und in ihr System einspeist, worauf sie in einer Redaktion bei uns ankommt und dort so publiziert wird, dass sie uns erreicht. Schon in den Frühnachrichten um 6 Uhr konnte der Ausbruch von 4.58 Uhr gezeigt werden. Ja, so erzählte man das damals noch seinen Kindern - im Jahr 1999.
Ein Jahrzehnt spater war es ein gewisser Janis Krums, der den Beweis erbrachte, dass solche Übertragungszeiten auch ganz ohne Übertragungswagen und mediates Brimborium auf null reduziert werden konnten. «There’s a plane in the Hudson», meldete er über Twitter am 15. Januar 2009, zusammen mit einem Foto der soeben im Fluss notgewasserten US-Airways-Maschine. Krums war ein Passagier der Hudson-Fähre, die gerade in der Nähe war und dem Flugzeug zu Hilfe eilte - und Teil einer der ersten Twitter-Live-Übertragungen.
Viele andere sollten folgen; und werden folgen. Das erste demokratische Echtzeitmedium hat uns mitten in die globale Gegenwart geworfen. Mit alien Stärken und allen Schwächen: «Twitter ist am besten in den ersten fünf Minuten nach einem Grossereignis - und am schlechtesten in den zwölf Stunden damach», seufzte ein User, nachdem er sich durch die Gerüchtewelle zum Anschlag von Boston gewühlt hatte.
Aber mit der Ankunft in der Echtzeit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Der theoretische Nachweis, dass Ereignisse sogar gemeldet werden können, bevor sie entstehen, gelang dem Comic-Zeichner xkcd. In einem Strip zeigte er die unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Erdbebenwellen (bis zu fünf Kilometer pro Sekunde) und Twitter-Meldungen (etwa 200000 Kilometer pro Sekunde). Tweets aus der Nähe des Epizentrums eines Erdbebens bewegen sich also schneller fort als die Erdbebenwellen selbst - sodass ab einer Entfernung von etwa hundert Kilometern das Beben lesbar ist, bevor es spürbar wird.
HIRN-PROGNOSEN Diese Meldung der nächsten Zukunft entspricht dabei genau der typischen Arbeitsweise des Gehirns. All die Sinneseindrücke, die es jetzt gerade erreichen, gleicht es mit all dem ab, was es aus der Vergangenheit im Gedächtnis gespeichert hat, um auf bekannte Muster zu stossen - und leitet daraus dann Vorhersagen für die allernächste Zukunft ab. Wenn jetzt gerade die Sonne scheint, und um sie herum keine Wolken sind, wird sie auch in der nächsten Sekunde noch scheinen. Diese Prognose wird an die Sinnesorgane zurückgeleitet, quasi als Soll-Wert dafür, welchen Eindruck sie als Nächstes melden sollten. Und solange das Meldeergebnis der Prognose entspricht, verwendet das Gehirn keine weitere Aufmerksamkeit darauf.
Erst in dem Moment, in dem ein von der Prognose abweichendes Ergebnis gemeldet wird, schaltet sich der Denkapparat ein - um ein anderes Muster zu finden, das zu diesem Ergebnis passt. Plötzliche Verdunklung bei Sonnenschein: Das kann nur bedeuten, dass etwas oder jemand uns in den Schatten gestellt hat. Was zumindest so Iange eine potenzielle Gefahr darstellt, bis die Ursache für diese Abweichung identifiziert ist.
Wie arbeiten nun die Medien mit dem Gehirn zusammen? Sie sind zum einen Lieferanten von Eindrücken - einige von vielen, die unser Sensorium erreichen. Einige von ihnen haben zudem noch eine eigenständige Rolle bei der Verarbeitung von Eindrücken: Sie Iiefern Zubereitungen. Das gilt insbesondere für die sogenannten Qualitätsmedien, die sich auf die Einordnung von Ereignissen spezialisiert haben, also Orientierung anbieten. Damit helfen sie dem Gehirn dabei, den im Nachrichtenstrom enthaltenen Sinn zu entschlüsseln. So wie die Zubereitung von Nahrungsmitteln die Verarbeitungskapazität des Verdauungsapparats erhöht, indem sie die Nährstoffe durch Kochen oder Braten leichter verdaubar macht, erhöhen Leitartikel, Kommentare und Analysen die Verarbeitungskapazität des Denkapparats.
Noch fast völlig unbespielt ist hingegen der (eigentlich Iogische) nächste Schritt: die Prognosekapazität des Gehirns erhöhen - indem Medien selbst Prognosen darüber abgeben, was als Nächstes passieren wird. Dabei ginge es nicht um die Langzeitprognose für die Welt in 25 Jahren, sondern um Ultrakurzzeitprognosen, wie sie auch für das Gehirn typisch sind: für die nächsten Sekunden, Minuten, Stunden, Tage.
In der Unternehmenswelt greifen solche Kurzzeitprognosen bereits um sich. Viele Big-Data-Anwendungen versuchen beispielsweise, genau solche Prozesse zu simulieren: Aus bekannten Lagerbeständen und historischen sowie aktuellen Verkaufsdaten werden auf diese Weise vermutliche Abverkäufe im weiteren Tagesverlauf prognostiziert. In der Makroökonomie haben im vergangenen Jahrzehnt die sogenannten PMI-Indikatoren rasant Karriere gemacht: Diese Umfragen unter Einkaufsmanagern über die aktuelle und die erwartete wirtschaftliche Lage haben sich als die besten Vorausindikatoren für die wirtschaftliche Gesamtleistung (BIP) erwiesen - die PMI-Veränderung von Juni sieht fast immer fast genauso aus wie die BIP-Veränderung im September.
Und in einer kleinen, aber prominenten Branche können inzwischen sogar Prognosen für die nächsten Minuten entscheidend sein: bei der Formel 1. Insbesondere, wenn Regen in der Luft liegt, geht es da nicht um Regenwahrscheinlichkeitsprozente, sondern schlicht darum, ob und wann und wie viel es wo im Rennverlauf regnen wird - denn wer eine Runde zu früh oder zu spät zum Reifenwechseln in die Box fährt, kann sich so um alle Chancen auf den Sieg bringen.
STIMMUNGSVORHERSAGE Für Privatpersonen sind solcherart Zukunftsprognosen bisher aber noch kaum im Angebot. So genau wie die Formel-1-Rennställe hätten wir die Wettervorhersage manchmal auch gern - wenn es urns Grillen oder um eine Fahrradtour geht, kann von Sonne oder Regen schliesslich der Familienfrieden abhängen. Die persönliche Ultrakurzzeit-Wetterprognose könnte sogar zur Einstiegsdroge werden, um Mediennutzer daran zu gewöhnen, dass ihre Zeitung ihnen jetzt ihre Zukunft vorhersagt. Auch Fahrzeitprognosen für individuelle Wege oder Stimmungsvorhersagen für eine Region könnten zu den Produkten gehören, die beispielsweise ein lokales Medium seinen Kunden anbieten könnte. Technisch aufwendig, auf jeden Fall, aber mit unmittelbar verständlichem Nutzen.
LEITPROGNOSE Technisch völlig unproblematisch und inhaltlich besonders spannend wäre aber, wenn sich die Medien an dem messen liessen, was sie selbst als eine ihrer grossen Stärken ansehen: ihre Sachkompetenz und ihre Einordnungsfähigkeit. Wenn die Journalisten eines Qualitätsmediums tatsächlich so qualitativ hochwertige Arbeit leisten, dann müsste es doch machbar sein, aufgrund der eigenen Analyse Prognosen über den weiteren Ablauf zu machen - ob Nahostkonflikt, Eurokrise oder Migrationsdebatte. Und das derart, dass hinterher beurteilt werden kann, ob die Prognose auch tatsächlich eingetroffen ist. Von Börsenjournalisten kennen wir das schon - jetzt wären als Nächstes die Leitartikler dran.